Deutsche
in der russischen
Geschichte

In Europa sind schwerlich zwei Länder zu finden, die historisch miteinander enger als Russland und Deutschland verbunden sind. Die 1000-jährigen wirtschaftlichen, kulturellen und dynastischen Beziehungen beider Völker wurden dank der mehrere Jahrhunderte währenden Geschichte der Russlanddeutschen noch mannigfacher. Im 16. und 17. Jahrhundert, vor allem aber im 18., hatten die russischen Zaren und Herrscher Meister unterschiedlicher Berufe, Militärs und Wissenschaftler aus deutschen Regionen nach Russland eingeladen. Ihre Nachfahren-bildeten die Blüte der russischen vorrevolutionären technischen, wissenschaftlichen, Beamten- und militärischen sowie Wirtschaftselite. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann die Besiedlung unbewohnter Gebiete des Landes durch deutsche Bauern. Das 20. Jahrhundert wurde für die große und facettenreiche deutsche Diaspora, die sich mit der Zeit in Russland herausgebildet hatte, zu einer tragischen historischen Etappe.

Die Ausstellung „Die Deutschen in der russischen Geschichte“ ist dem 250. Jahrestag der Veröffentlichung des Einladungsmanifestes an ausländische-Kolonisten von der Zarin Katharina II. gewidmet und erfasst beinahe drei Jahrhunderte aus der Geschichte der Russlanddeutschen, die einen bedeutenden Beitrag zur Herausbildung der russischen Gesellschaft, ihrer Entwicklung und europäischen Integration geleistet haben.

Deutsche Kolonien in Russland

im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert

Manifest von Katharina II.

„Über die Erlaubnis für alle Ausländer, die nach Russland kommen, sich in den Gouvernements niederzulassen, wo es ihnen gefällig ist, und über die ihnen gewährten Rechte“

22. Juli 1763. Russisches Staatsarchiv für alte Akten (RGADA)

Der Pass von K. Baumann und J. von Thünen

1764. RGADA

Ausgestellt für die Fahrt von Deutschland nach Russland.

Rapport von A. S. Mussin-Puschkin an Zarin Katharina II.

April — Mai 1765.

Archiv für Auswärtige Politik des Russischen Reiches (AVPRI)

Der russische Gesandte in Hamburg berichtet über die Vorbereitung zur Auswanderung von 260 deutschen Kolonisten aus Lübeck nach St. Petersburg und die Bewilligung von Unterkunfts- und Verpflegungskosten während der Reise.

Deutsche Kolonisten auf einem Markt in Sankt Petersburg

Kupferstich von J. G. Scheffner nach einer Zeichnung von Chr. G. H. Geißler. 1801

Gewöhnlich wird die Auffassung vertreten, dass die Geschichte der Russlanddeutschen mit der Herrschaftsperiode von Katharina II. beginnt. Die Zarin lud Kolonisten aus Europa zur Besiedlung und wirtschaftlichen Erschließung der im 17.—18. Jahrhundert angegliederten Gebiete ein. Das Manifest von Katharina II. vom 22. Juli 1763 wurde zur Grundlage für die Entstehung und Entwicklung deutscher Kolonien in Russland. Es erläuterte die Bedingungen für die Übersiedlung ins Land und garantierte verschiedene Privilegien. Die wichtigsten davon waren die Glaubensfreiheit, die Bereitstellung von Landflächen, die Freistellung vom Militärdienst, vergünstigte Bedingungen für die Entrichtung von Abgaben und die Selbstverwaltung.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden deutsche Kolonien in freien Regionen des Wolgagebietes sowie in den Gouvernements Sankt Petersburg und Tschernigow und etwas später — in den angegliederten Regionen des Nördlichen Schwarzmeergebietes (Gouvernements Cherson, Jekaterinoslaw und Taurien). An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden deutsche Kolonien in Wolhynien und Podolien. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen sich deutsche Kolonisten in Bessarabien und im Südkaukasus nieder. Viele der Nachfahren der ersten Kolonisten blieben über anderthalb Jahrhunderte an den Orten ihres kompakten Zusammenlebens, wobei sie die sprachlichen Besonderheiten, den Glauben und die ursprüngliche Kultur bewahrten.

Die deutschen Kolonisten bildeten in Russland einen besonderen ländlichen Stand, der sich aufgrund seiner sozialen und rechtlichen Stellung von den übrigen Kategorien der Bauernschaft erheblich unterschied. Die durch das Einladungsmanifest eingeräumten Privilegien und Vergünstigungen waren in den gesetzlichen Bestimmungen des ausgehenden 18. und bis in die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts bewahrt worden. 1857 wurde das Statut über die Ausländerkolonien im Reich veröffentlicht, das die Gesetzgebung über die Kolonisten zusammenfasste.

Grundriss einer typischen Kolonie für ausländische Kolonisten

D. Smirnow. 1765. RGADA

Auf dem Grundriss sind eine Kirche, eine Schule, ein Friedhof, ein Marktplatz, Äcker, Gärten, Vorgärten, Weiden u. a. vorgesehen.

Kalkulationen des Kollegienassessors O. I. Reis für das Ausländer-Fürsorgekontor

„Ungefährer Kostenvoranschlag — was der für die Kolonisten vorgesehene Aufbau eines Dorfes kosten kann“

„Wieviel Dessjatinen und Quadratsaschen für den Aufbau eines Dorfes nötig sind“

1764. RGADA

Grundriss eines Terrains, das für die Ansiedlung ausländischer Kolonisten bereitgestellt wurde

1765. RGADA

Auf dem Grundriss ist ein Gebiet im Gouvernement Saratow zwischen den Flüssen Wolga, Don und Chopjor dargestellt.

Landkarte der deutschen Kolonien an der Wolga

A. Trieper. Ausländer-Fürsorgekontor

Saratow. 1777. Staatliches historisches Museum (SHM)

Schenkungsurkunde von Katharina II.

1764. Archiv der Evangelischen Brüdergemeine Herrnhut

Über die Bereitstellung von 4000 Dessjatinen Land zwischen Zarizyn und Astrachan für die Kolonie Sarepta.

Ansicht von Sarepta

Philipp Jakob Färber, nach einem Original von Christlieb Sutter

Herrnhut. 1776. Archiv der Evangelischen Brüdergemeine Herrnhut

Deutsche Kolonien des Russischen Reichs

im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen die deutschen bäuerlichen Kolonisten nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten bedeutende Positionen auf dem Binnen- und Auslandsmarkt Russlands ein.

1. Die Kolonien des Wolgagebietes wurden zu großen Erzeugern von Weizen und Tabak.

2. Die Kolonisten aus dem Süden Russlands waren auf dem Agrartechnikmarkt, bei der Mehlherstellung und in der Viehzucht erfolgreich.

3. Die Kolonie Sarepta stellte das im ganzen Land bekannte Textilgewebe Sarpinka her.

4. Zur Grundlage der Wirtschaft der deutschen Kolonien im Südkaukasus wurden der Weinanbau und die Weinherstellung.

5. Die Kolonisten des Gouvernements Sankt Petersburg versorgten den Markt mit Kartoffeln, indem sie die Anbauflächen erweiterten und moderne Ackerbautechnologien bei der Erzeugung der für das Land neuen Kultur einführten.

6. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer zweiten Kolonisierungswelle in den südwestlichen Gouvernements Russlands. Zeitgleich entstanden „Tochter“-Siedlungen, die von den, aus den alten Kolonien stammenden, Siedlern gegründet wurden.

7. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden Kolonien sowohl in den südlichen und westlichen Gouvernements als auch im Nordkaukasus und Ural, in Baschkirien, Mittelasien und Sibirien, dessen massenhafte Kolonisierung in den Jahren der Stolypinschen Agrarreform einsetzte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich viele Kolonien zu florierenden Siedlungen, zu Zentren von Industrie und Handel entwickelt. Und die wirtschaftlichen Erfolge der deutschen Kolonisten begünstigten die Entwicklung der wichtigsten Agrarsektoren Russlands.

Die Reformen der 1870–1890-er Jahre entzogen den Kolonisten den rechtlichen Sonderstatus, indem sie der allgemeinen Masse der russischen Bauern gleichgestellt wurden und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit eingeräumt wurde, aktiv am öffentlichen Leben des Landes teilzunehmen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich viele Kolonien zu florierenden Siedlungen, zu Zentren von Industrie und Handelentwickelt. Und die wirtschaftlichen Erfolge der deutschen Kolonisten begünstigten die Entwicklung der wichtigsten Agrarsektoren Russlands.

Der Ausbruch des 1. Weltkrieges brach diesen Prozess ab und erschwerte die Lage der Deutschen in Russland.

Geschichte der Deutschen in der UdSSR

Am 19. Oktober 1918 wurde gemäß der von den Bolschewiken angenommenen „Deklaration über die Rechte der Völker Russlands“ das Autonome Gebiet (die Arbeitskommune) der Deutschen des Wolgagebietes gebildet, die 1924 in die ASSR der Wolgadeutschen mit der Hauptstadt in Pokrowsk (seit 1931 die Stadt Engels) umgewandelt wurde. Die Republik legte einen schweren und widersprüchlichen Weg zurück. Es entwickelten sich ihre Wirtschaft, das Bildungswesen und die Kultur, doch die Bevölkerung musste die Tragödie des Kriegskommunismus und der Kollektivierung, die Hungersnöte von 1921–1924 und 1932–1933 sowie massenhafte Repressalien überstehen. Eine relative Stabilität und Anhebung des Wohlstands der Bevölkerung waren erst in den Vorkriegsjahren erreicht worden.

Neben der Republik an der Wolga waren dutzende deutsche Verwaltungskreise und hunderte deutsche Dorfräte in anderen Orten des kompakten Zusammenlebens der Deutschen der UdSSR gebildet worden. Doch bereits in der zweiten Hälfte der 1930er begann man, sie schrittweise zu liquidieren. Außerhalb der ASSR der Wolgadeutschen waren alle deutschen Schulen, Theater und anderen nationalen Bildungs- und Kultureinrichtungen geschlossen worden.

1939 lebten 1,4 Millionen Deutsche in der UdSSR (in der Ukraine — 393.000, im Wolgagebiet — 376.000, in Kasachstan — 92.000 usw.)

Geschichte der Deutschen in der UdSSR

Deportation deutscher Bevölkerung aus dem europäischen Teil der UdSSR

Nach Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges dienten in der Roten Armee 33.500 Russlanddeutsche, darunter 1605 Offiziere. Im Sommer 1941 erhielten Oberst N. Gagen, dessen Division als eine der ersten zu einer Garde-Division wurde, der Kommandeur eines Panzerbataillons Oberleutnant A. Schwarz u. a. militärische Auszeichnungen. Heldentaten vollbrachten die Rotarmisten H. Hofmann und H. Neumann.

Mit dem Vorrücken der Nazi-Armee gen Osten begann sich das Verhältnis zu den Sowjetdeutschen zu ändern. Am 28. August 1941 wurde der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgaregionen wohnen“ veröffentlicht. Damit begann eine massenhafte Zwangsumsiedlung der Deutschen aus dem europäischen Teil der UdSSR nach Sibirien und Kasachstan. Bis Januar 1942 waren 856.200 von den 904.200 umzusiedelnden Menschen zwangsweise umgesiedelt worden. 1942–1943 erfolgten in Sibirien erneute Deportationen von bis zu 70.000 Sowjetdeutschen in den Hohen Norden.

Im September 1941 begann man, die deutschen Militärs aus der kämpfenden Armee abzuziehen. Sie wurden in Baubataillone gesteckt, die der Arbeitsarmee überstellt wurden.

Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des ZK der Allunions-KP (B) „Über die Umsiedlung der Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen sowie der Verwaltungsgebiete Saratow und Stalingrad“

Moskau, Kreml. 26. August 1941

Staatsarchiv der RF

Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgaregionen wohnen“

Zeitung „Bolschewik“. 30. August 1941

Karteikarte der Familie Bauer

September 1941

Sie wurde bei der Deportation der Familie angelegt.

Arbeitsbuch von David Kondratjewitsch Baumung

1939–1946

Aus dem privaten Archiv von A. Baumung, Deutschland

Am 1. September 1941 wurde eine Eintragung über die Kündigung gemäß dem Erlass vom 28. August 1941 vorgenommen, am 3. Februar 1942 — über die Aufnahme in die Arbeitsarmee.

Abtransport-Karte für Familie Bauer am 4. September 1941 mit dem Militärzug № 804 von der Station Nachoj bis Kustanai.

„Fortjagen muss man Sie“: Zeitzeugen und Forscher über die Tragödie der Russlanddeutschen. Moskau, 2016. S. 62

Geschichte der Deutschen in der UdSSR

Die Deutschen in der Arbeitsarmee und in der Sondersiedlung

In den Kriegsjahren wurden 315.000 Sowjetdeutsche — Männer im Alter von 15 bis 55 Jahren und Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren — für Arbeitseinheiten und -kolonnen mobilisiert. Diese Truppenteile erhielten im Volke den Namen „Arbeitsarmee“.

Die Angehörigen der Arbeitsarmee bauten Betriebe und Bahnstrecken, arbeiteten bei der Holzaufbereitung, in Schächten und Erzgruben. Mehr als die Hälfte von ihnen leisteten beim NKWD den Arbeitsdienst und wohnten und schufteten wie Gefangene in bewachten Lagern mit harten Bestrafungen für Verstöße. Laut unvollständigen Angaben sind durch die schwere Arbeit, Krankheiten und Repressalien über 60.000 Menschen ums Leben gekommen.

Mitteilung über den Tod von Jan Weiss

1945

Historisches und Heimatkundemuseum von Gorkowskoje, Verwaltungsgebiet Omsk

Antrag von Wladimir Gerlach an die Behörden des Innenministeriums der Stadt Prokopjewsk

1949

„Fortjagen muss man Sie“: Zeitzeugen und Forscher über die Tragödie der Russlanddeutschen. Moskau, 2016. S.106

Mit der Bitte um Erlaubnis, sich mit der in Tomsk lebenden Schwester zu treffen.

Die Arbeitsarmee liquidierte man 1946, doch ab Januar 1945 und bis Dezember 1954 galt für die Sowjetdeutschen das Regime der Sondersiedlungen, das ihre Freiheit einschränkte. Erst 1964 wurde der erste Teil des Erlasses vom 28. August 1941 aufgehoben. Die Vorwürfe des Landesverrates wurden als unbegründete anerkannt. Aber erst im November 1972 erlaubte man den Deutschen, an die Orten zurückzukehren, wo sie vor dem Krieg gelebt hatten.

Zu Dokumenten, die die Deutschen rehabilitierten, wurden die Deklaration des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Anerkennung der Akte gegen die Völker, die zwangsweise umgesiedelt wurden, als ungesetzliche und verbrecherische sowie über die Gewährleistung ihrer Rechte“ (November 1989) und das Gesetz der RSFSR „Über die Rehabilitierung der Repressalien ausgesetzten Völker“ (April 1991).

Bescheid über die Rehabilitierung von Warwara Iwanowna Brehm

1994

Historisches und Heimatkundemuseum von Gorkowskoje, Verwaltungsgebiet Omsk

Bescheid über die Rehabilitierung von Leonora Adamowna Rausch

2000

Historisches und Heimatkundemuseum von Gorkowskoje, Verwaltungsgebiet Omsk