Familie und Alltag der Russland­deutschen

In der Kultur der Russlanddeutschen galten stabile Familie und hohe moralische Grundsätze als Quelle des Wohlergehens des Volkes. In der Familie wurden die traditionellen Beziehungen, die Spezifik des Alltags und Haushaltes und die Muttersprache gewahrt sowie die Verhaltensnormen festgelegt und befolgt. Die Familientraditionen der Deutschen Russlands sind zahlreich und mannigfaltig. Einen besonderen Platz unter ihnen nehmen die Geburts- und Hochzeitsbräuche wie auch die mit den wichtigsten Momenten im Leben eines Menschen verbundenen Riten ein.

Johann Karlowitsch Rosenfeld und Natalia Paterson am Tag des Verlobung

Smolensk. Anfang der 20. Jh.

Privater Archiv von E.E. Listarowa

Traditionell gab es in den Familien der Russlanddeutschen viele Kinder. Die Geburt eines Menschen wurde von einer großen Zahl von Bräuchen und Riten begleitet, die mit der Schwangerschaft zusammenhingen, auf die Gesundheit der Mutter, eine leichte und wohlbehaltene Entbindung sowie Geburt eines gesunden Kindes abzielten, aber auch die Gesundheit des Babys in der Anfangsphase seines Lebens sicherten. Zu einem der wichtigsten wurde der Ritus der Taufe. Bei den Russlanddeutschen gab es die Tradition, das erste Kind nach dem Großvater oder der Großmutter und das zweite nach dem Vater oder der Mutter zu nennen. Um nicht mit gleichartigen Vornamen durcheinander zu geraten, dachte man sich für die Kinder zweite, innerfamiliäre, Vornamen aus. Die Bräuche und Riten im Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes blieben bis zu den 1950—1960er Jahren eine gefestigte Tradition, deren geistiger Aspekt bis heute bewahrt wird.

Familie

1920er Jahre. Bauerngut Friedensruh

Aus dem Archiv des Zentrums für deutsche Kultur der Stadt Isilkul, Gebiet Omsk

Tatjana Smirnowa: Ethnografija rossijskich nemzew. (Ethnografie der Russlanddeutschen). Moskau, 2016. S. 257.

Wohnung und Gegenstände des Alltags

Sommerküche

Schwarzmeerraum. Anfang des 20. Jh.

Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Stuttgart

Ansicht eines Kolonistenhauses

Selz, Gouvernement Cherson Anfang des 20. Jh.

Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Stuttgart

Kolonistenhof

Balzer, Gouvernement Saratow. Anfang des 20. Jh.

Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Stuttgart

Kolonistenhof

Katharinenstadt, Gouvernement Saratow

Anfang des 20. Jh.

Heimatmuseum Marx

Die Wohnräume wurden mit dem maximalen Komfort eingerichtet. In den Zimmern wurde unterschiedliches Möbel untergebracht: solide, mit Gewinde und Malerei dekorierten Garderoben, ausziehbare Sofas, Tische, Bette, Kinderwiegen. Die meisten Aussiedler besorgten Möbel vor Ort. In meisten Fällen wurde Möbel auf Bestellung von Handwerkern hergestellt, die es in jedem Dorf gab. Aber einige Artikel (Sofas, Schränke, Uhren) wurden von den Bewohnern der Tochterkolonien in Sibirien aus Ihren mütterlichen Siedlungen vom Wolgagebiet oder vom Süden gebracht.

Wohnzimmer

Ausstellungsfragment. Heimatgeschichtliches Museum Issilkul.

Issilkul, Gebiet Omsk. 2000

Tatjana Smirnowa: Ethnografija rossijskich nemzew. (Ethnografie der Russlanddeutschen). Moskau, 2016. S. 132.

Wohnzimmer in einem deutschen Haus

Ausstellungsfragment.

Halbstadt, Gebiet Altai. 2017

Überörtliches Museum für Geschichte des Deutschen Nationalrayons.

Die Küche in einem deutschen Haus

Litkowka, Gebiet Omsk. 2006

Tatjana Smirnowa: Ethnografija rossijskich nemzew. (Ethnografie der Russlanddeutschen). Moskau, 2016. S. 131.

Sprüche — Bibelsprüche oder kurze Sinnsprüche belehrender Art, künstlerisch gestaltet als Bilder und gerahmt sind sehr verbreitet unter der deutschen Bevölkerung Russlands. In der Mitte des Bildes steht meist ein Zitat aus dem Evangelium oder aus dem Alten Testament, die Ränder sind mit Blumenmuster verziert. Bei einigen nehmen christliche Symbole und Attribute den Platz im Zentrum ein, und das Blumenmuster ersetzt eine Landschaftskomposition. Während die Tradition der Gestaltung der Bibelzitate — Sprüche — als Bilder bei den Russlanddeutschen insgesamt weit verbreitet ist, sind sie sie vor allem für evangelische Siedlungen repräsentativ, am weitesten verbreitet unter den Mennoniten und später unter den Baptisten. Die Sprüche der Russlanddeutschen wurden bis vor kurzem als ein Ausdruck der Volkskunst angesehen, angefertigt nur für sich oder auf Bestellung von den Dorfmeistern und bildeten sich zu einer Erscheinung des Kunstgewerbes an der Grenze von kanonisierter religiöser und volkstümlicher Traditionen.

Hochzeitstraditionen

Die Hochzeitstraditionen der Russlanddeutschen umfassten eine Vielzahl von Bräuchen, Riten und Omen, die die Zukunft der neuen Familie bestimmten. Bereits bei der Verlobung tauschten der Bräutigam und die Braut Geschenke aus, die zu einem Unterpfand für die Treue wurden und die Grundlage für den künftigen gemeinsamen Haushalt bildeten.

фото

Lilia und Iwan Menzel

Siedlung Perwomajskij, Gebiet Archangelsk

1961–1962

Aus dem Archiv der Familie Menzel

фото

Maria und Joseph Ortmann

Siedlung Oktjabrskij, Gebiet Omsk

1958

Aus dem Archiv der Familie Ortmann

фото

Jekaterina und Iwan Herr

1955

Aus dem Archiv der Familie Herr

Am Polterabend bzw. Junggesellenabschied kamen die Jungen und Mädchen im Haus der Braut zusammen, veranstalteten ein Festessen, Spiele und Tänze, zerschlugen Steingut und Porzellan und lärmten, um die bösen Geister aus dem Haus zu vertreiben, damit diese nicht die Hochzeit und das weitere glückliche Leben stören.

O Schönste, Allerschönste,
Was hör ich von Dir?
Ich habe mir eines erwahlet,
Ein Madchen, das mir es gefallt.

Das Hochzeitsritual an sich wurde durch Lieder, Musik, Spiele der Verkleideten und andere Handlungen ausgefüllt. Eine beliebte Person der Hochzeit war der Hochzeitsbitter bzw. Hochzeitslader. Anhand der Bänder an seinem Stab konnte man die eingeladenen Gäste zählen. Als die Hochzeitsprozession das Haus der Braut verließ, versperrte man ihr den Weg in Erwartung einer Auslösung.

фото

Der Hochzeitszug

1960er Jahre

Tatjana Smirnowa: Ethnografija rossijskich nemzew. (Ethnografie der Russlanddeutschen). Moskau, 2016. S. 211.

Liebe Leute, ich komme zu Euch geritten,
um Euch alle einzuladen und zu bitten,
einen von den Hausleuten ausgenommen
Freitag-Morgen zu N. N. zur Hochzeit zu kommen.
Kommt aber nicht mit vollem Magen,
denn sie werden tüchtig auftragen.

Aus dem Lied eines „Hochzeitsladers“

Das Hochzeitsessen wurde mehrfach durch Tänze, Gesang und das Pflegen der Traditionen der Brautentführung bzw. des Brautraubs und des Stehlens des Brautschuhs mit anschließendem Rückkauf bzw. Brautschuhversteigerung unterbrochen. Zum Höhepunkt der Feierlichkeiten wurde der Brauch des Kranzlabtanzens, der die Braut den verheirateten Frauen anschloss.

фото

Maria und Alexander Supes mit Brautwerbern

Dorf Zwonarjow Kut, Gebiet Omsk

1960er Jahre

Archiv des Zentrums für deutsche Kultur, Dorf Zwonarjow Kut, Gebiet Omsk

фото

Brautpaar mit Brautwerbern

Dorf Zwonarjow Kut, Gebiet Omsk

1950er Jahre

Archiv des Zentrums für deutsche Kultur, Dorf Zwonarjow Kut, Gebiet Omsk

Der zweite Tag der Hochzeit endete mit einem scherzhaften spielerischen Tanz, bei dem der Hausherr die Gäste mit einem Besen „wegfegte“, wobei er sagte: „Kehr aus, kehr aus, kehr aus allen Ecken aus!“.

Die Hochzeit ist rum, die Kuche sein ins Klae getrae.

Deutsche Redensart

Feiertage

Ich winsche eich fiel Glik und Segen in Neuen Jahre.
So fiel Glik und so und so fiel Segen,
Als wie Trapfen in dem Regen
Und wie Floken in den Schnee,
Sollen bei ihn im Haus stehen.

Museen der deutschen Kultur

Museum des Dorfes Ananjewka

Verwaltungskreis Kulunda, Altai-Region

1995 gegründet von den Mitarbeitern des Kindergartens und der Schule des Dorfes Ananjewka. Im Verlauf von 20 Jahren wurde eine große Sammlung von Zeitzeugnissen und Haushaltsgegenständen der Deutschen der Altai-Region zusammengetragen.

Anfangs war das Museum in einem der Zimmer des Kindergartens untergebracht. Gegenwärtig nimmt es die Hälfte eines Gebäudes ein, in dem sich einst eine 8-Klassen-Schule befand. Die Inneneinrichtungen des Museums entsprechen maximal dem Interieur eines Hauses auf dem Lande. Die Zeitzeugnisse und Haushaltsgegenstände befinden sich an den für sie „gewohnten“ Stellen — dort, wo sie traditionell in den Häusern der Russlanddeutschen platziert wurden — und erinnern an ihre Besitzer.

Gegenstände aus der Sammlung des Museums im Dorf Ananjewka

Setbentj-Sofa, Wej-Wiege

Handarbeit. Ananjewka. Beginn des 20. Jh. Holz

Aus dem Besitz von Jelena Kornejewna Peters.

Bücher der Familie Siebert

Links — eine Bibel, gehörte Isaak Petrowitsch Siebert.

Schatulle, Brille und Schere

Von Jelena Isaakowna Siebert

Spinnrad Spenarot

Handarbeit. Ananjewka. Anfang des 20. Jh. Holz

Kerosinlampe Letorn

Gehörte Jelena Petrowna Geier (28. Juli 1920 — 10. Februar 1997). In den 1940ern arbeitete sie als Angehörige der Arbeitsarmee in einem Chemiebetrieb im Verwaltungskreis Michailowka. Nach der Heimkehr arbeitete sie im Kolchos „Altai“ als Pferdepflegerin und Hilfsarbeiterin.